Das Denken

Emotionen in der TCM – Teil 4

Bisher haben wir mit Wasser, Holz und Feuer drei der fünf Wandlungsphasen besprochen. Als nächstes geht es daher um die Wandlungsphase Erde, den Funktionskreis Milz und die ihm zugeordnete Emotion des Nachdenkens.

Die Erde nimmt im Reigen der Wandlungsphasen eine Sonderstellung ein. Wenn wir von den fünf Wandlungsphasen sprechen, so denken wir meist an eine kreisförmige Anordnung, in der eine Wandlungsphase aus der vorherigen entsteht und die nächste hervorbringt. In diesem Modell folgt die Erde auf das Feuer und ist gefolgt vom Metall. Es gibt in der chinesischen Philosophie aber noch ein weiteres Modell der fünf Wandlungsphasen, in dem die Erde im Mittelpunkt steht und die restlichen Wandlungsphasen in einer quadratischen Anordnung die vier Kardinalpunkte einnehmen: das Wasser im Norden, das Holz im Osten, das Feuer im Süden und das Metall im Westen. Diese Idee der Erde im Zentrum findet sich in vielen Bereichen der TCM, so in der Bezeichnung der Funktionskreise Milz und Magen als der „Mitte“ und der zentralen Rolle des süßen Geschmacks in der Ernährung.

Dass diese beiden Modelle der fünf Wandlungsphasen (nennen  wir sie „5“ und „4+1“) gleichberechtigt nebeneinander stehen und je nach Kontext eingesetzt werden können, um bestimmte Phänomene zu erklären, kann anfangs vielleicht etwas verwirrend sein. Tatsächlich erhebt die chinesische Philosophie für diese und ähnliche Erklärungsmodelle keinen Anspruch auf absolute Wahrheit. Diese Modelle sind nur dann und so lange wahr, wie sie uns dazu dienen, Phänomene zu erklären oder natürliche Gesetzmäßigkeiten zu veranschaulichen. Wir dürfen sie wechseln wie zwei Paar Schuhe, ganz nach Bedarf, und das werden wir auch in diesem Artikel mehrmals tun.

Ein Kontext, in dem beide Erklärungsmodelle nebeneinander stehen können, sind die Jahreszeiten. Folgen alle fünf Wandlungsphasen aufeinander, so entspricht die Wandlungsphase Erde dem Spätsommer, also jeden Wochen, in denen viele Früchte süß werden und der Sommer noch kurz den Atem anhält, bevor der Herbst einkehrt. Nach dem zweiten Modell (4+1) hingegen steht die Wandlungsphase Erde für die Mitte des Jahres, für einen ideellen Mittelpunkt, um den herum das Jahr sich entwickelt und zu dem es nach jeder Jahreszeit kurz zurückkehrt. Die Wandlungsphase Erde wird hier mit zweiwöchigen Übergangsphasen gleichgesetzt, welche aufeinander folgende Jahreszeiten jeweils voneinander trennen.

Und nun zu unserem eigentlichen Thema: den Emotionen. Die der Wandlungsphase Erde zugeordnete Emotion kann am Ehesten als Denken, Nachdenken oder – in der krankhaften Form –als Grübeln bezeichnet werden. Damit verbunden gehören zum Einflussbereich der Erde auch Meditation, Vernunft und das Lernen. Wie merkwürdig, werden sich viele denken, dass in der chinesischen Medizin etwas unter „Emotion“ läuft, was nach unseren westlichen Maßstäben geradezu als das Gegenteil von Gefühlen gilt. Aber „Emotion“ beschreibt hier den Ausdruck und die Bewegung des Qi der einzelnen Funktionskreise, und das Denken ist der Ausdruck des Qi des Funktionskreises Milz.

Der Zusammenhang zwischen dem Nachdenken und der Milz spiegelt sich sehr konkret darin, dass Denken Milz-Qi verbraucht. Heutzutage wissen wir, dass das Gehirn für seine Versorgung mit Energie auf den Blutzucker angewiesen ist. Die Bereitstellung von Energie über den Blutzucker und dessen Konstanterhaltung wiederum fällt nach der TCM in normalen Situationen in den Aufgabenbereich des Funktionskreises Milz. Das spüren wir dann daran, dass wir von Denkarbeit richtig müde werden und oft auch Heißhunger auf Süßes auftreten kann, also Zeichen einer vorübergehenden Schwäche des Milz-Qi.

Dauern die Phasen konzentrierten Denkens zu lange, so kann aus der vorübergehenden Schwäche ein anhaltender Milz-Qi-Mangel werden. In anderen Worten: übermäßiges Denken schädigt den Funktionskreis Milz. Dabei kommt es zum einen zu einer Schwächung des Milz-Qi, zum anderen aber auch zu seiner Stagnation. In der Chinesischen Medizin sagt man hierzu: übermäßiges Denken verknotet das Qi. In der Folge kann der Funktionskreis Milz seine Aufgaben nicht mehr ausreichend erfüllen. Häufig kann man diese Art der Störung bei fleißigen Schülern und Studenten beobachten oder ganz allgemein bei Intellektuellen. Allerdings ist für die negative Wirkung von übermäßigem Denken das Resultat des Nachdenkens gleichgültig. Auch und gerade ziel- und zweckloses Denken schadet, weshalb die Milz auch bei Menschen leidet, die ständig grübeln ohne dabei auf einen grünen Zweig zu kommen.

Ist die Milz ihrerseits schwach, verfügt also über wenig Qi oder leidet unter einer Ansammlung von Feuchtigkeit, so wird die Fähigkeit zu denken beeinträchtigt. Die Person ist deshalb natürlich nicht minder intelligent, doch kann sie sich schlecht oder nur kurze Zeit konzentrieren, ermüdet bei Kopfarbeit sehr schnell und die Gedanken erreichen nur selten die nötige Klarheit, bleiben verschwommen und wirr. Auch die Angewohnheit zu grübeln kann Folge einer Milz-Schwäche sein. Es ist, als hätte die Milz keinen Boden unter den Füßen und nicht die Kraft, sich aus dem Wirrwarr angefangener Gedanken zu erheben und einen einzelnen Gedanken zu Ende zu bringen.

Sehr gut kann man diese Schwäche durch die Bewegung erklären, die das Qi der Milz beim Denken vollführt. Im Unterschied zu den anderen vier Grundemotionen nach der TCM, welche sich in spür- und oft auch sichtbaren Bewegungen des Qi manifestieren, spielt die Dynamik des Denkens sozusagen auf kleinerem Raum. Um diese Dynamik zu verstehen, können wir uns vor Augen halten, wie Milz und Magen in der Verdauung zusammenspielen: die Milz ist dafür zuständig, die reinen Anteile aus Speisen und Getränken herauszufiltern und nach oben zu leiten, wo Qi und Blut daraus entstehen kann, während der Magen die unreinen Bestandteile nach unten leitet, letztlich deren Ausscheidung entgegen. Dieses Zusammenspiel von aufsteigenden und absteigenden Kräften stellt den Kern des Qi-Mechanismus dar, jenes geordneten und harmonischen Miteinander aller Funktionskreise. Nun können wir uns gut vorstellen, dass die Funktion der Milz im Bereich des Denkens dieser ihrer verdauenden Funktion ähnelt. Informationen und Eindrücke werden von ihr im wahrsten Sinne des Wortes „verdaut“: sie werden geordnet und unterteilt, Brauchbares wird gespeichert und sich angeeignet, Unbrauchbares wird beiseite geräumt und vergessen. Eine schwache Milz kann auch gedanklich Reines nicht mehr von Unreinem, Nützliches nicht mehr von Unnützem trennen: die Gedanken drehen sich im Kreis.

Als Lebensabschnitt können wir der Wandlungsphase Erde die Zeit der Reife zuordnen. Beginn und Ende dieses Abschnittes hängen mehr mit kulturellen als mit biologischen Einflüssen zusammen, weshalb es beinahe unmöglich ist, sie allgemeingültig festzusetzen. Aber es handelt sich um jene Jahre, während derer in die meisten Leben eine gewisse Stabilität einkehrt: eine feste Beziehung, ein fester Wohnsitz, eine feste Arbeit.

Ein zentrales Thema in diesem Lebensabschnitt ist das Nähren, auch hier in engem Bezug zu den Funktionskreisen Milz und Magen. Waren die Beziehung zu den Partnern während der Feuer-Phase noch stark von Enthusiasmus und Verliebtheit gezeichnet, so finden sich in den Jahren der Reife Beziehungen, die stärker auf Vertrauen, Verantwortungsgefühl und gemeinsame Lebensentwürfe basieren. Nicht selten hängen in diesen zentralen Jahren zwei Generationen von uns ab: die älter werdenden Eltern und natürlich die eigenen Kinder. Auch hier sind Fürsorge, Verlässlichkeit und Verantwortungsgefühl gefragt, die Tugenden der Erde. Erst nach langen Jahren dürfen wir uns im Herbst unseres Leben langsam und schrittweise aus dieser Verantwortung zurückziehen, im Lebensabschnitt der Wandlungsphase Metall.

Hier eine Übersicht über alle 5 Teile dieser Beitragsreihe
Teil 1 – Die Angst
Teil 2 – Die Wut
Teil 3 – Die Freude
Teil 4 – Das Denken
Teil 5 – Die Traurigkeit

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