Der süße Geschmack

Auszug aus meinem Buch „Das Qi stärken. Chinesische Ernährungslehre in Theorie und Praxis“

Süß zwischen Yin und Yang

Süß ist bei einem Qi-Mangel der mit Abstand wichtigste Geschmack, gleichzeitig bereiten süße Nahrungsmittel bei diesen Mustern aber auch große Probleme. Es ist zunächst einmal sehr wichtig zu unterstreichen, dass das, was in der TCM als „süß“ bezeichnet wird, viel mehr meint als Zucker, Honig und Süßspeisen. Im Prinzip gelten nach der TCM alle Nahrungsmittel als süß, die nennenswerte Mengen an Kohlenhydraten, Fetten oder Eiweißen, also an Kalorien enthalten. So erklärt sich auch die zentrale Rolle des süßen Geschmacks in der Ernährung: er ist es vor allem, der satt macht und Kraft gibt. Der süße Geschmack ist für alle Menschen unverzichtbar, besonders wichtig aber wird er für jene, die schwach oder abgemagert sind, die geistig oder körperlich besonders viel leisten.

Was das Gleichgewicht zwischen Yin und Yang angeht, hat der süße Geschmack eine ambivalente Rolle. Alles, was wir zu uns nehmen, kann im Körper entweder verbrannt werden und so den Weg des Yang gehen (wir sprechen vom Energiestoffwechsel), oder aber es bleibt als Substanz erhalten um den Körper aufzubauen und geht so den Weg des Yin (wir sprechen vom Baustoffwechsel). Süße Nahrungsmittel können beide Wege gehen. Sie können das Qi und dadurch die Yang-Wurzel stärken, was bedeutet, dass die in ihnen enthaltenen Kalorien in Aktivität, Wärme und Bewegung umgewandelt werden. Oder aber sie nähren Blut und Körperflüssigkeiten und damit die Yin-Wurzel, was wiederum bedeutet, dass sie in Substanzen umgewandelt werden, aus denen der Körper sich aufbaut.

Wie süß befeuchtet

Neben diesen beiden physiologischen Bestimmungen können süße Nahrungsmittel aber auch Feuchtigkeit und Schleim vermehren, also pathologische Substanzen. Etwas vereinfachend kann man sagen, Feuchtigkeit entsteht immer dann aus Speisen und Getränken mit einem süßen Geschmack, wenn sie nicht als Qi, Blut oder Körperflüssigkeiten enden. Die Begriffe „Feuchtigkeit“ und „Schleim“ bezeichnen dabei in der TCM eine Vielzahl von pathologischen Substanzen sehr unterschiedlicher Art. Im Folgenden ein Überblick über die wichtigsten durch süße Speisen und Getränke verursachten Formen von Feuchtigkeit bzw. Schleim:

•     werden bestimmte Nahrungsbestandteile nicht oder nicht vollständig im Dünndarm assimiliert, so verbleiben sie im Stuhl und führen zu ungeformtem Stuhl oder Durchfall, einer Form von Feuchtigkeit;

•    manche süßen Speisen und Getränke führen dazu, dass die Produktion von Schleim vor allem entlang der Atemwege zunimmt, nach der TCM eine Form von Feuchtigkeit-Schleim in der Lunge;

•    bestimmte süße Speisen und Getränke führen zu einer vermehrten Einlagerung von Flüssigkeit im Gewebe (Ödeme);

•    eine weitere Form von Feuchtigkeit bzw. Schleim ist auch das Übergewicht mit einem klaren Bezug zu einem Übermaß an süßen, sprich kalorienhaltigen Speisen und Getränken.

In all diesen Fällen muss man feststellen, dass der Übergang von physiologischen Substanzen (Yin, Blut, Körperflüssigkeiten) zu pathologischen Substanzen (Feuchtigkeit und Schleim) immer mit einem Übermaß zu tun hat, also einem Ungleichgewicht zwischen der Menge und der Qualität der aufgenommenen Speisen und Getränke auf der einen Seite und dem Bedarf bzw. der Fähigkeit des Körpers, mit den aufgenommenen Speisen und Getränken fertig zu werden, auf der anderen. Es ist normal und für die Gesundheit absolut notwendig, dass der Stuhl eine bestimmte Fülle und ausreichend Feuchtigkeit besitzt, dass die Atemwege durch Schleim geschützt und befeuchtet werden, dass Körperflüssigkeiten im Gewebe zirkulieren und dass überschüssige Kalorien in Form von Fettreserven angelegt werden. Problematisch und pathologisch werden all diese Prozesse erst im Übermaß.

Wann süß befeuchtet

Wie kommt es also dazu, dass süße Speisen und Getränke im Körper zu pathologischen Substanzen werden und nicht zu Qi, Blut oder Körperflüssigkeiten? Hier die wichtigsten Faktoren, die dabei entscheidend sind:

•    die Verdauungskraft von Magen und Milz: je stärker diese Funktionskreise sind, desto besser funktioniert die Umwandlung von Speisen und Getränken in körpereigene Ressourcen und desto weniger Feuchtigkeit fällt an; eine unzureichende Umwandlung führt selbst bei eingeschränkter Aufnahme von Speisen und Getränken noch zur Bildung von Feuchtigkeit mit gleichzeitigem Mangel an Qi, Blut und Körperflüssigkeiten;

•     die Menge der aufgenommenen Speisen und Getränke: wird mehr aufgenommen, als umgewandelt werden kann, so entsteht Feuchtigkeit; auch in diesem Fall sind die Funktionskreise Magen und Milz überfordert, allerdings nicht aus eigener Schwäche, sondern durch das Übermaß an anstehender Verdauungsarbeit;

•    die mehr oder weniger befeuchtende Natur der aufgenommen Speisen und Getränke: stark befeuchtende Nahrungsmittel (z.B. Weizenmehl, Milchprodukte, viele Obstsorten und Fruchtsäfte, sowie die meisten natürlichen Süßungsmittel) und allgemein sehr fette Speisen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass im Organismus Feuchtigkeit entsteht;

•     Nahrungsmittelunverträglichkeiten: dass die eben genannten oder auch andere Speisen und Getränke in einzelnen Fällen besonders stark befeuchtend wirken, hängt sehr oft mit einer  Nahrungsmittelunverträglichkeit zusammen, welche die Umwandlung einzelner Nährstoffe unmöglich macht und dadurch zur Entstehung von Feuchtigkeit führt;

•    ein übermäßig süßer Geschmack: zu stark oder einseitig süße Speisen und Getränke schwächen das Milz-Qi und wirken besonders stark befeuchtend;

•     das Yang im Allgemeinen und das Nieren-Yang im Besonderen: je stärker das Yang ist, desto schneller ist der Stoffwechsel, desto aktiver und wärmer ist der Organismus und desto mehr Qi wird gebraucht und verbraucht; ist das Yang stark, so gehen süße Speisen und Getränke also zu einem größeren Teil den Weg des Yang, werden in Qi umgewandelt und „verbrannt“, es bleibt weniger in Form von Feuchtigkeit übrig;

•    der Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme: süße Speisen und Getränke, die abends oder nachts bzw. während einer Yin-Zeit aufgenommen werden, gehen mit einer sehr viel größeren Wahrscheinlichkeit den Weg des Yin; das kann positiv sein, wenn man Yin, Blut und Körperflüssigkeiten nähren will, wenn aber stark befeuchtende oder übermäßig viele Speisen und Getränke aufgenommen werden, so führt dies entsprechend auch zu mehr Feuchtigkeit.

Die nährende und befeuchtende Rolle von süßen Nahrungsmitteln kann natürlich in vielen Situationen auch durchaus positiv wirken. Wenn ein Mangel an Blut, Säften oder Yin herrscht und es zu Trockenheit kommt, so können süße, sehr süße und auch süß-befeuchtende Nahrungsmittel eingesetzt werden. Die Funktionskreise Lunge und Dickdarm sind besonders häufig von Trockenheit betroffen. Bei einem trockenen Husten zum Beispiel hilft eine warme Milch mit Honig. Wenn die Trockenheit den Dickdarm betrifft, empfiehlt die TCM Nüsse und Ölsamen sowie deren Öle. Die befeuchtende Wirkung vieler süßer Nahrungsmittel ist also nicht von vorneherein ungünstig. Es geht – wie immer in der TCM – darum, ein Gleichgewicht und das jeweils passende Maß zu finden.

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