Die Gesundheit der Kinder – Teil 2 – Das Yin

Im ersten Teil dieser Überlegungen zur Gesundheit der Kinder aus der Sicht der TCM haben wir den Yang-Mangel bereits besprochen. In diesem zweiten Teil geht es nun um das Yin oder eigentlich den Yin-Mangel. Und um einen relativen Überschuss des Yang, denn Kinder haben in manchen Funktionskreisen ein so starkes Yang, dass es bei einer Schwäche der Yin-Wurzel sehr leicht überschießt.

Dass das Yang bei einer Schwäche des Yin überschießt, ist eine Grunderkenntnis der TCM. Diese Dynamik, die öfters mit dem Heißlaufen eines zu wenig gekühlten Motors verglichen wird oder mit einem Ballon, der sich aus seiner Verankerung reißt, zeigt sich auch beim Erwachsenen in mehreren Störungsmustern. Zum einem kommt es bei einem Blutmangel in den Funktionskreisen Leber und Herz zu einem aufsteigenden Leber-Yang beziehungsweise einem unruhigen Geist, zwei Mustern, die wir als eine Art „Hyperaktivität“ der Yang-Wurzel bezeichnen könnten. Zum anderen kommt es bei einem Yin-Mangel in unterschiedlichen Funktionskreisen zu den Symptomen der Leere-Hitze. Alle diese Muster können wir auch bei Kindern beobachten. Beginnen wir mit der grundlegenderen Störung: dem Yin-Mangel.

Schwäche des Yin bei Kindern

In der TCM gehört der Yin-Mangel eigentlich in die Altersklasse 50+. Dass jüngere Erwachsene unter einem Yin-Mangel leiden, ist selten und geht meist auf lange, auszehrende Erkrankungen, eine sehr ungesunde Lebensführung oder eine entsprechende geerbte Veranlagung zurück. Bei Kindern von einem Yin-Mangel zu sprechen ist wohl auch nicht ganz orthodox, doch lassen sich viele Symptome beobachten, die am ehesten als eine Leere-Hitze interpretiert werden können. Ursache für die Schwäche des Yin bei Kindern ist das Wachsen: es verbraucht so viel Substanz auf einmal, dass es während eines Wachstumsschubes zu Engpässen kommt. Das Yin wird als zunehmende Körpersubstanz verbaut und fehlt dadurch anderswo. Während eines Wachstumsschubes, der in den ersten Lebensjahren meist durch das Zahnen erfahrbar wird, leiden die Kinder deshalb sehr oft an den Symptomen einer Leere-Hitze, die je nach Konstitution auch in eine Völle-Hitze oder eine Feuchte-Hitze umschlagen kann: das Zahnfleisch ist geschwollen und rot, der Po ist rot und brennt, die Wangen sind gerötet, es kann Fieber vorkommen, das Kind ist oft vor allem nachts unruhig und schläft schlecht, außerdem schwitzt es nachts. Der Nachtschweiß, auch bei Erwachsenen ein typisches Symptom für einen Yin-Mangel, betrifft bei Kindern oft den Kopf und nicht wie bei Erwachsenen die „fünf Zentren“, also Brust, Hände und Füße. Das Auftreten dieser Form von Leere-Hitze bleibt meist auf die ersten Lebensjahre beschränkt. Die Kinder wachsen zwar auch nachher noch, doch verlangsamt sich das Wachstum im Vergleich zur Körpergröße, das Yin wird gefestigt und die Kinder haben mehr Reserven.

Ein sehr starkes Yang

Kommen wir nun zu den Mustern, die die beiden Funktionskreise Leber und Herz betreffen. Auch in diesen Fällen liegt dem Ungleichgewicht eine Schwäche der Yin-Wurzel zu Grunde, allerdings ist hier das Blut betroffen, nicht so sehr das Yin. Es sind diese beiden Funktionskreise, die bei Kindern (wie übrigens prinzipiell auch bei Erwachsenen) ein besonders starkes Yang besitzen. Nicht umsonst entsprechen nach der Theorie der Fünf Wandlungsphasen die Leber dem Holz, also dem „kleinen Yang“ und das Herz dem Feuer, dem „großen Yang“. Ein starkes Yang zu haben ist weder für ein Kind noch für einen Erwachsenen ein Problem, solange es sich entfalten kann und es ein ebenso starkes Yin gibt, um es zu verankern. Dann erkundet und erobert ein Kind tagsüber die Welt und fällt abends todmüde ins Bett und in einen tiefen Schlaf. Problematisch wird es aber, wenn das viele Yang aus unterschiedlichen Gründen stagniert, oder aber, wenn das Yin zu schwach ist und das Yang deshalb nicht ausreichend verankern kann.

Bei Kindern äußert sich das Yang der Leber in einem starken Bewegungsdrang und in dem Drang, sich zu entwickeln und sich Raum zu verschaffen, auch durch das wiederholte Austesten der gegebenen Grenzen, also durch eine Art gesunde Aggressivität. Das Yang im Funktionskreis Herz hingegen zeigt sich in ihrer Neugierde, in der Fähigkeit zu Begeisterung, Inspiration und Fantasie. Kommt es in diesen Funktionskreisen zu einem relativen Übermaß des Yang, so betreffen die Symptome die für Leber und Herz typischen Funktionen und Emotionen. Was die Leber betrifft, manifestiert sich das überschießende Yang oft in einem übersteigerten Bewegungsdrang, wobei das Kind eher Probleme damit hat still zu sitzen (wie es für eine Schwäche des Yin typisch ist), als dass es wirklich sportliche Höchstleistungen erbringen würde (das wäre ein Zeichen für ein volles Yang). Auch die fehlende Kontrolle über die eigenen Impulse, eine geringe Frustrationstoleranz, ein regelwidriges, provozierendes Verhalten oder ganz allgemein ein aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Dingen sind typisch für eine Störung im Funktionskreis Leber.

Was den Funktionskreis Herz betrifft, zeigt sich das relative Übermaß des Yang in einer Aktivität des Geistes, die ebenfalls typischerweise etwas zappeliges und unstetes hat. Das Kind hat häufig Schlafstörungen, einen von Träumen gestörten Schlaf, es spricht im Schlaf oder schlafwandelt gar (teilweise sieht die TCM hier auch eine Störung im Funktionskreis Leber als Ursache). Es kann sich nicht lange konzentrieren, plappert ohne Punkt und Komma, sucht ständig nach Ablenkung oder wird seiner Phantasie nicht Herr. Außerdem kann es emotional sehr labil sein und ebenso schnell begeistert wie enttäuscht.

Yang + oder Yin -?

Bei Kindern wie bei Erwachsenen ist in der Praxis die Unterscheidung zwischen einem vollen Yang (Yang +) und einem durch eine Yin-Leere überschießenden Yang (Yin -) wichtig. Ersteres ist eine echte, volle Kraft, sie zeigt sich meist tagsüber und mündet in eine Tat, die wirklich etwas bewegt, ganz gleich in welche Richtung. Letzteres hingegen ist eine Art von zappeliger, müder Unruhe, die sich meist dann besonders stark manifestiert, wenn eigentlich Ruhe einkehren sollte, also abends und nachts. Im Unterschied zum vollen Yang führt das überschießende Yang zu Aktivitäten, die sich verzetteln oder ins Leere laufen und keine großartigen Resultate bringen. In einem Bild: nehmen wir an, es muss ein Zimmer aufgeräumt werden. Das volle Yang packt an und erledigt es in kürzester Zeit, bekommt dabei einen Wutanfall, verstellt gleich auch noch ein paar Möbel und macht viel Lärm. Das durch eine Yin-Schwäche übermäßige Yang hingegen rennt nervös hin und her, weiß nicht womit beginnen, verzettelt sich in Kleinigkeiten, ermüdet bald und die Ordnung im Zimmer lässt auf sich warten.

Ich möchte kurz ein paar Ansätze auflisten, wie die beschriebenen Ungleichgewichte in der Praxis angegangen werden können. Für das Yin sehr wichtig ist zunächst eine innere Ruhe, die Kinder nicht zuletzt durch einen durchgetakteten Tag, Wiederholungen und Rituale erfahren können. Ganz allgemein ist ein ausreichender, ungestörter und früher (bereits einige Stunden vor Mitternacht beginnender) Schlaf für ein starkes Yin unersetzbar. Gerade was den Schlaf anbelangt, kommt es bei einer Schwäche der Yin-Wurzel leicht zu einem Teufelskreis: je schwächer das Yin, desto schwerer fällt das Schlafen, desto schwächer wird das Yin… . Was Blut und Yin angeht, ist natürlich auch die Ernährung sehr wichtig, in diesem Fall besonders die Aufnahme von ausreichenden Mengen essenzieller Nährstoffe, also von Vitaminen, Mineralstoffen, essenziellen Amino- und Fettsäuren. Kinder benötigen gerade während der Wachstumsphasen viele Nährstoffe und wenn sie ihren Hunger zu oft durch nährstoffarme Kalorienbomben stillen, wird es sehr schnell eng.

Was den Funktionskreis Leber betrifft, sind ausreichend körperliche Bewegung, viel Spielraum für die Entwicklung und gesunde Herausforderungen sehr wichtig für ein gesundes Gleichgewicht. Nur wenn die Leber tagsüber all ihr Yang loswerden kann, gibt sie abends Ruhe. Und im Funktionskreis Herz spielt ein gesunder Umgang mit Fernsehen, Computerspielen & Co. eine große Rolle. Auch der Geist braucht ein Gleichgewicht zwischen Yin und Yang, damit das Kind nicht von ständiger Stimulation überrollt wird, sondern ihm Raum zur Besinnung bleibt: wenn außen Ruhe herrscht, kann sich der Geist nach innen kehren, ins Yin, was gerade in den Abendstunden sehr wichtig ist.

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