Die Weintraube

Die Tage werden spürbar kürzer, es ist Traubenzeit. Der Weintraube werden sowohl in der Chinesischen Ernährungslehre als auch nach westlichen Erkenntnissen einige hervorragende gesundheitsfördernde Eigenschaften zugeschrieben. Doch schaut man sich bei Obsthändlern um, so schöpfen wir dieses Potential nur zu einem kleinen Teil, denn die meisten gegessenen Trauben sind weiß und, auch dies die einhellige Erkenntnis in Ost und West, die wertvollsten Wirkungen besitzen rote Trauben. Es geht in diesem Artikel also um rote Trauben und zwar nicht um geschmacklose, überzüchtete Riesendinger, sondern um kleine, süße Träubchen mit dicker Schale und Kernen.

Kommen wir zur Beschreibung der Traube in der Chinesischen Medizin. Zunächst einmal wird der Traube die Fähigkeit zugeschrieben, die Yin-Wurzel des Organismus zu stützen, also Körperflüssigkeiten, Blut und Yin zu nähren. Wir haben es dabei mit drei unterschiedlichen Ressourcen zu tun, die aber – deshalb ihre Zugehörigkeit zur Yin-Wurzel – alle drei mit Substanzen zusammenhängen, die der Organismus braucht, um sich aufzubauen, zu regenerieren und zu befeuchten. Die Körperflüssigkeiten sind die „oberflächlichste“ dieser drei Ressourcen, die am wenigsten wertvolle sozusagen. Sie zu liefern ist in der Ernährung meist das kleinere Problem und die allermeisten Obstsorten können dies sehr gut. Bei einem Mangel an Körperflüssigkeiten ist Obst dank seinem süß-sauren Geschmack und dem hohen Wassergehalt ganz allgemein die wohl günstigste Nahrungsmittelgruppe, was jeder, der schon einmal richtig durstig war, leicht nachvollziehen kann. In diesem Sinne funktionieren übrigens weiße Trauben ebenso gut wie rote. Beide befeuchten auch einen trockenen Hals, einen trockenen Husten und einen trockenen Stuhl, obgleich es in all diesen Bereichen nicht wenige Nahrungsmittel gibt, die diese Aufgaben ebenso gut erledigen wie die Weintraube. In all diesen Fällen sollten natürlich nur frische Trauben oder Traubensaft verwendet werden und keine Rosinen. Vor allem bei einer trockenen Verstopfung kann der Verzehr von getrocknetem Obst ohne ausreichende Flüssigkeit zu einer weiteren Verschlimmerung führen. Aus der Säfte spendenden, befeuchtenden Funktion ergibt sich wie so oft auch eine Kontraindikation, für die Traube die einzig ernsthafte: wer unter weichen Stühlen oder Durchfall leidet, sollte es mit Trauben nicht übertreiben, zu viele davon können zur Ansammlung von Feuchtigkeit und einem Gefühl von Spannung und Enge im Bauch führen.

Die zweite Ressource, die von den Trauben profitiert, ist das Blut. Bei einer einigermaßen funktionierenden Verdauung kann zwar auch das Blut noch relativ leicht genährt werden, dafür aber eignet sich durchaus nicht jedes Obst. Besonders wertvoll sind nach der Erkenntnis der TCM die roten Obstsorten, allen voran Beerenobst, Kirschen und rote Weintrauben. Gibt es verschiedenfarbige Sorten, so besitzen nach der Beobachtung der Chinesen vor allem rote Früchte eine starke Wirkung auf das Blut, also bei Maulbeere, Ribisel (Johannisbeere) und Weintraube die jeweils rote oder dunkle Variante. Die Traditionelle Chinesische Ernährungslehre erklärt dies durch eine Art Signatur (schließlich ist auch das Blut rot), letztendlich aber basiert auch diese Erkenntnis auf Beobachtungen. Verwendet man die Trauben in getrocknetem Zustand, so sollte man um das Blut zu nähren demnach kleine, dunkle Korinthen wählen und nicht große, helle Sultaninen. Rote Weintrauben haben in der TCM einen engen Bezug zum Funktionskreis Leber, denn in diesem wird das Blut gespeichert.

Was in den traditionelleren chinesischen Texten meines Wissens nicht explizit genannt wird, doch nach neueren Erkenntnissen immer wichtiger wird, ist die Fähigkeit von roten Trauben und mehr noch von rotem Traubenwein, das Blut nicht nur zu nähren sondern auch zu bewegen, also einer Blut-Stase entgegenzuwirken. Konkret geht es dabei vor allem um die Prophylaxe von Herz- und Kreislauferkrankungen, insbesondere die Vorbeugung von Arteriosklerose und die Verbesserung der Fließeigenschaften des Blutes. Festgemacht wird diese Wirkung aus biochemischer Sicht vor allem an der Substanz Resveratrol. Jüngste Studien stellen zwar in Zweifel, ob deren Wohltaten selbst bei einem begrenzten Konsum von Rotwein die negativen Folgen des Alkohols aufwiegen. Diese Bedenken aber gelten natürlich nicht für die Weintraube selbst, einen hochwertigen Traubensaft oder, wenn man Rotwein zum Kochen verwendet, wobei der Alkohol zum allergrößten Teil verfliegt.

Die dritte Ressource, um die es hier geht, ist die am schwersten zu nährende. Das Yin sitzt – bildlich gesprochen – sehr tief und kann im Guten wie im Schlechten nicht so leicht erreicht werden. Es gibt einige Obstsorten, die das Yin nähren, doch was die Weintraube unter ihnen auszeichnet, ist ihr direkter Bezug zum Yin des Funktionskreises Niere und damit zur Wurzel des Yin im menschlichen Organismus. Die Fähigkeit, das Yin so tief zu nähren macht aus der Weintraube ein sehr gutes Nahrungsmittel bei Beschwerden in den Wechseljahren, wie zum Beispiel Hitzewallungen, Unruhe oder Nachtschweiß. Die chinesischen Quellen empfehlen zum Beispiel einen aus eingedicktem Traubensaft und Honig zubereiteten Sirup, der mit Wasser verdünnt getrunken wird. Es gibt dazu in den Quellen zwar keine Auskunft, doch nehme ich an, für das Yin sind auch die Traubenkerne wichtig, denn Yin hat bei Pflanzen meist mit den Kernen zu tun. Die Kerne der Weintraube enthalten das wertvolle Traubenkernöl, das in der Kosmetik verwendet wird, um Haut und Haare zu nähren, eine Wirkung, die nach der TCM direkt mit dem Yin zusammenhängt. Will man diese Yin-nährende Wirkung von innen her erzielen, sollte man die Traubenkerne deshalb gründlich kauen und erst danach eventuell ausspucken. Ob es eine gute Idee ist, Traubenkernöl in größeren Mengen in der Küche zu verwenden, ist allerdings fraglich. Es enthält, ähnlich wie Sonnenblumenkernöl, sehr viele Omega-6-Fettsäuren, die es zwar zu einem wertvollen Öl machen, das so wichtige Verhältnis zu den Omega-3-Fettsäuren aber ungünstig beeinflussen. Dann vielleicht doch lieber Walnussöl.

Soweit also die wertvolle Unterstützung der Weintraube was die Yin-Wurzel betrifft. Damit aber ist es nicht genug. Die Traube gilt in der TCM außerdem als ein Tonikum, gibt also Kraft. Diese Kraft betrifft zunächst einmal das Qi im allgemeinen Sinne. Aus biomedizinischer Sicht können wir diese Wirkung wohl zu einem guten Teil durch den Traubenzucker erklären, der uns auf kürzestem Weg mit Energie versorgt. Das macht Trauben (oder Rosinen und Korinthen) für alle interessant, die schnell viel Energie brauchen, also vor allem Sportler und Denker, weshalb Rosinen zum Beispiel ein wichtiger Bestandteil von Studentenfutter ist. Sehr gelungen beim Studentenfutter ist übrigens auch die Kombination der Rosinen mit Nüssen und Kernen, also mit sehr viel langsameren Energielieferanten. Durch den hohen Anteil an Traubenzucker sind Trauben und mehr noch Rosinen andererseits kein geeignetes Nahrungsmittel für Diabetiker. Die tonisierende Wirkung von Trauben geht aber wohl über diese schnelle Energie hinaus, denn in der Chinesischen Ernährungslehre werden sie auch bei anhaltender Müdigkeit und Erschöpfung und zur Genesung nach schwerer Krankheit eingesetzt. Außerdem wird die Weintraube bei einer drohenden oder wiederholten Fehlgeburt empfohlen, denn sie soll imstande sein „den Fötus zu beruhigen“, eine Eigenschaft, die sie laut TCM mit wenigen anderen Nahrungsmitteln teilt, so mit Karpfen, Barsch, Hühnerei und Zitrone.

Trauben besitzen darüber hinaus eine weitere tonisierende Wirkung, die ansonsten für Obst absolut untypisch ist. Die TCM spricht davon, dass sie „Knochen, Muskeln und Sehnen aufbauen“, eine Wirkung, die über die Tonisierung der Funktionskreise Niere und Leber läuft. Diese Eigenschaft macht die Weintrauben zusammen mit einer Hand voll anderer Nahrungsmittel (darunter zum Beispiel Hafer, Quinoa, Wachteleier, Pferdefleisch und Barsch) zu einem idealen Snack für alle, die noch wachsen oder stärker und robuster werden wollen. Besonders empfohlen wird die Weintraube in der chinesischen Ernährungslehre für Gelenksschmerzen oder eine Schwäche im Bereich von Lendenwirbelsäule und Knien, die typischerweise eine Schwäche des Funktionskreises Niere begleiten. Auch rheumatische Gelenkschmerzen sind in der TCM eine Indikation für (rote!) Trauben, vor allem dann, wenn sie mit Feuchtigkeit zusammenhängen, bei feuchtem Wetter also schlimmer werden.

Und damit kommen wir zur letzten wichtigen Wirkung der Weintraube: sie fördert die Diurese, vermehrt also auch die Urinmenge. So dient sie in der TCM als Mittel gegen Wasseransammlungen im Gewebe und Schwierigkeiten beim Wasserlassen. Insgesamt kann die Traube dem Organismus also sowohl neue, wertvolle Substanzen und Flüssigkeiten zuführen (hier liegt sicher ihre größte Stärke), als auch schlechte, pathologische Feuchtigkeit ableiten. Damit gehört sie zu den sehr nützlichen Nahrungsmitteln, die ich gerne „Austauscher“ nenne, weil sie weder allzu stark befeuchten, noch allzu stark trocknen, sondern einfach dabei helfen, die Teiche, Kanäle, Flüsse und Seen des Organismus mit frischem Wasser zu versorgen.

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