Fülle, Leere und der Weg der Mitte

Jedes innere Ungleichgewicht ist nach der Chinesischen Medizin immer entweder einer Fülle oder einer Leere zuzuordnen. Im ersten Fall ist etwas zu viel da, im zweiten Fall von etwas zu wenig. Eine Leere betrifft dabei immer die Ressourcen des Organismus, ganz gleich um welche es sich handelt: Essenz, Yin und Yang, Qi, Blut oder Körperflüssigkeiten. Eine dieser Ressourcen ist bei einem Leere-Muster nicht ausreichend stark oder nicht in ausreichender Menge vorhanden, wir sprechen dann meist von einem Mangel. Eine Fülle hingegen betrifft nie die eben aufgezählten physiologischen Ressourcen. Es gibt in der TCM kein Störungsmuster, das mit einem Übermaß an Essenz, Yin oder Yang, Qi, Blut oder Körperflüssigkeiten zu tun hat. Was bei einer Fülle im Übermaß vorhanden ist, sind nämlich per definitionem nicht diese Ressourcen, sondern pathologische, störende Substanzen oder Faktoren. Man spricht von Hitze oder Feuer, Kälte, Wind, Feuchtigkeit, Schleim, und auch eine Stagnation kann als ein Fülle-Muster gedeutet werden. Die Störfaktoren, die zu einer Fülle führen, können im Körper selbst entstehen oder aber von außen in den Körper eindringen. Ganz gleich welchen Ursprungs und welcher Art, zeichnen sie sich immer dadurch aus, dass sie nicht mit den Ressourcen des Organismus zusammenarbeiten und so das innere Gleichgewicht stören. So unterscheidet sich störende, pathologische Hitze vom physiologischen, “guten” Yang dadurch, dass sie sich nicht wie letzteres durch das Yin kühlen und beruhigen lässt. Ebenso sind physiologische Körperflüssigkeiten rein, können vom Qi transportiert werden und erfüllen ihre Aufgaben im Organismus, während pathologische Feuchtigkeit entweder „trüb“ ist oder stagniert. Und auch wenn Qi oder Blut stagnieren, verlieren sie ihre physiologischen Funktionen und werden zu einem störenden Element.

Dass der Unterscheidung zwischen Fülle und Leere in der Befundung nach der TCM eine so große Bedeutung zukommt, liegt daran, dass es in der Therapie sehr wichtig ist, diese beiden Situationen klar zu unterscheiden. Bei einem Leere-Muster muss nämlich hinzugefügt, gestärkt oder genährt werden, bei einem Fülle-Muster hingegen muss etwas Störendes oder Überflüssiges ausgeleitet, geklärt, entfernt werden. Besonders kompliziert und schwierig wird es dann, wenn sich Leere und Fülle mischen und überschneiden, ja wenn sie sich gegenseitig sogar bedingen. So kann zum Beispiel ein Qi-Mangel der Milz (Leere) zur Ansammlung von Feuchtigkeit (Fülle) führen, ein Blut-Mangel der Leber (Leere) zum Auftreten von Innerem Wind (Fülle) oder das Eindringen von äußerer Kälte (Fülle) kann das Yang nachhaltig schwächen (Leere).

Die Ernährung als therapeutisches Mittel kann in beiden Situationen eingesetzt werden. Natürlich hat Essen und Trinken immer den Zweck, eine Leere zu füllen. Ohne zu essen und zu trinken würden wir verdursten oder verhungern, die extremste Form der Leere, die wir uns vorstellen können. Die TCM-Ernährung ist traditionell überhaupt sehr stark darauf ausgelegt, eine Leere zu füllen. Diese Ausrichtung entspricht allerdings nicht mehr ganz unseren heutigen gesundheitlichen Herausforderungen, denn die haben mindestens ebenso oft mit Fülle-Mustern zu tun haben. Vor allem sind die Fülle-Muster stärker vertreten, wenn es um gefährliche, lebensbedrohliche (Zivilisations-) Krankheiten geht. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, sich auch darüber Gedanken zu machen, welchen Spielraum es in der Ernährung gibt, um eine Fülle zu leeren.

Die folgenden Überlegungen und die Einteilung der Nahrungsmittel entspricht allein meiner Einschätzung, denn meines Wissens wird dieses Problem in der traditionellen TCM-Ernährungslehre nicht in dieser Form thematisiert. Ich halte es aber für sehr sinnvoll, die Nahrungsmittel danach zu unterteilen, ob sie vermehren oder vermindern (man verzeihe mir diese vereinfachte Formulierung), ob sie also eher eine Leere füllen oder eine Fülle leeren. Dabei können wir nicht exakt vorgehen, sondern müssen die Wirkungen ungefähr einschätzen, denn jedes einzelne Nahrungsmittel vereint immer mehrere, auch sehr unterschiedliche Wirkungen. Was wir allerdings unbedingt vermeiden müssen, ist, von diesen Eigenschaften direkt auf den gesundheitlichen Wert der Nahrungsmittel zu schließen, denn der ist individuell sehr unterschiedlich und hängt allein davon ab, ob bei einem Menschen Fülle oder Leere vorherrschen. Stellen wir uns vor, wir spannen einen Bogen zwischen diesen beiden Extremen, wo müssen wir dann einzelne Nahrungsmittel und Nahrungsmittelgruppen positionieren?

Am linken Ende des Bogens, wo es um das Füllen einer Leere geht, finden wir praktisch alle Nahrungsmittel tierischen Ursprungs. Gleichgültig ob Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte, Eier oder Milchprodukte, alle diese Nahrungsmittel haben fantastische Fähigkeiten, eine Leere zu füllen. Dagegen sind sie – mit wenigen und relativ unbedeutenden Ausnahmen – kaum dafür zu gebrauchen, eine Fülle zu leeren. Bei sehr vielen Leere-Mustern sind tierische Nahrungsmittel deshalb sehr wertvoll, manchmal auch wirklich schwer zu ersetzen. Ein übermäßiger Konsum aber führt relativ sicher früher oder später zu Fülle-Mustern wie Hitze, Stagnation und der Ansammlung von Feuchtigkeit oder Schleim. Von allen tierischen Nahrungsmitteln sind die Fische am ausgeglichensten und können am ehesten als sogenannte „Austauscher“ bezeichnet werden. Doch dazu später.

Von den Nahrungsmitteln tierischer Herkunft sind dagegen nur sehr wenige an diesem Ende des Spektrums positioniert: Nüsse und Samen, die aus ihnen gewonnenen Speiseöle sowie Süßungsmittel wie Honig oder Zucker. Alle anderen pflanzlichen Nahrungsmittel haben, was das Füllen und das Leeren betrifft, gemäßigtere oder ausgeglichenere Eigenschaften. Bei den Getreiden (allgemein relativ weit links) gibt es eine gewisse Bandbreite: Weizen und verwandte Sorten stehen weiter links, Hirse, Amaranth und Buchweizen um einiges weiter rechts. Außerdem rücken Mehle ganz allgemein nach links und raffinierte Mehle tun dies noch stärker. Leicht rechts neben den Getreiden finden wir die Hülsenfrüchte und spätestens hier wird es Zeit, den Begriff „Austauscher“ zu erklären. Dies ist kein traditioneller Begriff der TCM, aber mir scheint, dass er am besten jene Nahrungsmittel bezeichnet, die gleichzeitig etwas geben und etwas nehmen. Es handelt sich also um sehr ausgeglichene Nahrungsmittel, was Fülle und Leere betrifft. Als Austauscher können wir die Fische bezeichnen, dann bestimmte Getreidesorten, alle Hülsenfrüchte, sowie einige Obst- und viele Gemüsesorten. Austauscher sind also sehr unterschiedliche Nahrungsmittel, doch was sie auszeichnet ist ihre ausgeglichene Wirkung im Geben und Nehmen: sie leiten Feuchtigkeit aus und nähren gleichzeitig; sie stärken das Qi und sorgen gleichzeitig dafür, dass es nicht stagniert; sie stärken die Yang-Wurzel und können doch auch Hitze kühlen.

Was die beiden Gruppen Obst und Gemüse betrifft, müssen wir das Obst sicher weiter links ansiedeln als das Gemüse. Nach der Logik der TCM hat dies vor allem mit deren Geschmack zu tun. Der süß-saure Geschmack von Obst sorgt dafür, dass sowohl Qi als auch Blut und Körperflüssigkeiten vermehrt werden. Der eher bittere oder scharfe Geschmack der meisten Gemüsesorten hingegen sorgt dafür, dass diese sehr viel weniger füllen und dagegen mehr leeren. Natürlich gibt es auch innerhalb dieser Gruppen wichtige Unterschiede. Bei den Obstsorten gibt es den Avocado, der in seiner Fähigkeit, eine Leere zu füllen, durchaus mit, zum Beispiel, Milchprodukten verglichen werden kann. Andere Obstsorten, etwa manche Beeren oder Zitrusfrüchte, haben auch sehr starke ausleitende, bewegende oder Hitze klärende Wirkungen und können deshalb durchaus als Austauscher gelten. Beim Gemüse wiederum stehen die Karotte oder die Kartoffel relativ weit links, während der bittere Blattsalat oder die Salatgurke eindeutig mehr nehmen, als sie geben.

Generell muss man sagen, dass vor allem das Gemüse aber auch das Obst durch eine rohe Zubereitungsform weiter nach rechts rückt, weil dadurch die Umwandlung erschwert wird und die Ausbeute des Organismus abnimmt. Ganz rechts schließlich, in einem Bereich, in dem mehr weggenommen wird als gegeben, finden wir bittere Gemüsesorten, einige Salate, die meisten Kräuter und Gewürze (mit einigen Abstrichen, denn manche können zum Beispiel zu einer Fülle-Hitze führen). Alle diese Nahrungsmittel sorgen dafür, dass Fülle abgebaut wird, ohne dabei großartig aufzufüllen, was natürlich bei vielen Fülle-Mustern von großem Wert ist. Prinzipiell führt eine stärker pflanzliche Ernährung also zu weniger Fülle-Mustern, allerdings gilt dies nur, wenn man nicht zu sehr auf Süßes, Mehliges und Fettes baut. Die einzige Gruppe, die das gesamte Spektrum überquert, sind die Getränke. Vom gesüßten Milchgetränk ganz links bis zum bitteren Kräutertee ganz rechts gibt es hierbei in Bezug auf Fülle und Leere alles, was das Herz begehrt.

Nicht nur, was wir essen, ist bei Fülle oder Leere entscheidend, sondern auch wieviel davon. Auch weniger oder mehr zu essen kann für die Gesundheit sowohl negativ als auch positiv sein, je nachdem, wie es mit dem inneren Gleichgewicht aussieht. So führt es zu Fülle-Störungen, wenn man sich regelmäßig überisst, während übertriebenes Fasten zu einer Leere führt. Andererseits ist es bei einer Leere unbedingt notwendig, wenigstens satt zu werden, während es bei einer Fülle manchmal auch etwas Hunger braucht, weil nur dann der Organismus die Gelegenheit hat, mit der Fülle aufzuräumen. Zur Zeit sind mit dem Fasten, mit Rohkost, Vegetarismus und Veganismus Ernährungsformen sehr weit verbreitet, die meiner Erfahrung nach bei sehr vielen Menschen nach spätestens einigen Jahren zu Leere-Mustern führen. Diese Ernährungsformen sind aber eine durchaus verständliche Antwort auf die in unserer Wohlstandswelt grassierende Fülle und bei Fülle-Mustern wenigstens anfänglich auch von großem gesundheitlichen Nutzen. Langfristig aber sind für die Gesundheit immer gemäßigte Richtungen besser.

Wie können wir uns also orientieren? Ich würde bei spürbaren inneren Ungleichgewichten empfehlen, eine individuelle Ernährungsberatung in Anspruch zu nehmen, bei der natürlich auch in Bezug auf Leere und Fülle ein Ausgleich angestrebt wird. In allen anderen Fällen ist ein Mittelmaß wie immer der beste Weg. Das wäre dann eine Ernährung deren Hauptgewicht auf den Austauschern ruht, also mit vielen möglichst vollen Getreiden, Hülsenfrüchten und Gemüsen, sowie einem ausgeglichenen Anteil an stärker vermehrenden und stärker vermindernden Nahrungsmitteln. Eigentlich gar nicht so schwierig, oder?

4 Kommentare zu „Fülle, Leere und der Weg der Mitte“

  1. Hallo. Habe Depression, Ängste, Unruhe und innere Leere und Gedankenkarussell.
    Trotz antidepressiva komme ich nicht zu dem Loch raus. Könnte mir ihre Behandlung helfen? Der Zustand ist kaum auszuhalten.
    Freundliche Grüße
    Danke für Antwort
    Manca Rosmarie

  2. KARIN WALLNOEFER

    Ich bin keine Ärztin und behandle nicht, sondern arbeite vor allem in der Prävention und der Selbsthilfe. Das ist in Ihrem Fall sicher nicht ausreichend. Es kann gut sein, dass Ihnen die Chinesische Medizin helfen kann, aber dafür brauchen Sie einen Arzt/eine Ärztin, die Sie mit der TCM begleiten kann.
    Ich wünsche Ihnen eine baldige Besserung!
    Karin

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