Über Qigong zu schreiben ist keine leichte Aufgabe. Trotzdem dieser Versuch: eine Qigong-Übung zu beschreiben, die wir alle beherrschen, sozusagen von Kindesbeinen an. Denn wir alle praktizieren täglich Qigong, nur wissen die meisten nichts davon.
Aber kommen wir zunächst dem Qi etwas näher. Das Wort qi (气 oder in der nicht vereinfachten Schreibweise氣) aus dem Chinesischen zu übersetzen ist mühsam. Die Bedeutungen gehen von Atem bis Ärger und von Gas bis Geruch. In den chinesischen Körper- und Atemtechniken, die unter dem Namen „Qigong“ zusammengefasst werden, meint man mit Qi die Energie, die durch unseren Körper fließt, ihn wärmt, bewegt, schützt und alle seine Funktionen möglich macht. Jeder Mensch kann dieses Qi bei sich und anderen wahrnehmen und beeinflussen, nur passiert dies meist unbewusst. Im Qigong (übersetzt „Übungen mit dem Qi“) geht es darum, die Wahrnehmung des Qi zu schulen und zu lernen, wie wir es sammeln, vermehren und gezielt lenken können.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich zum ersten Mal bewusst das Qi wahrgenommen habe. Ich steckte damals mitten in meiner Shiatsu-Ausbildung und übte das Auffinden der Punkte am eigenen Körper. Ich hielt mit einem Daumen den Punkt Milz 6 gedrückt (ein wichtiger Akupunkturpunkt an der Innenseite des Unterschenkels, eine Hand breit oberhalb des Knöchels), als ich plötzlich zwischen Daumen und Unterschenkel im An- und Abschwellen des Punktes klar und deutlich den Rhythmus meines Atems erkannte. Ich versuchte, den Atem zu beschleunigen und zu verlangsamen, kein Zweifel: er war da. Aber wie kam er da hin?!
In der chinesischen Medizin gilt der Funktionskreis Lunge als die „Pumpe des Qi“. Zum einen ist mit dieser Qi-Pumpe ganz einfach die Atmung gemeint, denn im Chinesischen heißt auch Atemluft „qi“. Doch die Pumpfunktion der Lunge kennt noch einen weiteren Aspekt. Wie ihr Nachbar, das Herz, bedient auch die Lunge zwei Kreisläufe gleichzeitig. Doch im Unterschied zum Herzen ist bei der Lunge nur der eine Kreislauf anatomisch sichtbar, während der zweite über die energetischen Strukturen unseres Organismus verläuft. Der erste dieser beiden Kreisläufe, über den die Atmung abläuft, ist nach außen hin offen. Der zweite hingegen wirkt nach innen, in den gesamten Körper hinein. Auf diesem zweiten Kreislauf bewegt die Lunge das Qi in jede Zelle des Körpers, lässt es entlang der Meridiane strömen und bringt es bis unter die Haut. Auf diesem inneren, energetischen Kreislauf gelangt das Qi bis in die kleine Zehe und mit ihm gelangt auch der Atemrhythmus dorthin.
Im Qigong hat die Atmung eine große Bedeutung als einer der „Motoren“ des Qi. Wollen wir das Qi lenken, es in seiner spontanen Eigenbewegung unterstützen und beeinflussen, so tun wir dies im Qigong unter Zuhilfenahme von drei Dingen: dem Atem, der Körperhaltung bzw. der Bewegung und der gesammelten Aufmerksamkeit des Geistes. Jeder dieser drei „Motoren“ kann für sich genommen die Bewegung des Qi beeinflussen; im Qigong werden sie je nach Stil und Ausrichtung kombiniert, um eine noch stärkere Wirkung zu erzielen.
Dieselbe Technik, dieselbe Kombination aus Atem, Bewegung und Konzentration setzen wir auch in unserem Alltag immer wieder instinktiv und unbewusst ein, ohne zu wissen, dass wir damit genau genommen Qigong praktizieren. Und damit wären wir nun bei der spontanen Qigong-Übung, die ich anfangs angesprochen habe. Um sie nachzuvollziehen braucht es vielleicht etwas Einfühlungsvermögen, für aufbrausende Charaktere dürfte es allerdings um einiges leichter sein.
Stell dir vor, du ärgerst dich, und zwar nicht nur ein bisschen, sondern SEHR. Der Ärger bringt das Qi dazu, im Körper nach oben zu steigen, vor allem in den Kopf. Stell dir deinen Ärger so lebhaft vor, dass du beginnst zu spüren, wie das Qi in den Brustraum und in den Kopf drängt. Auch wenn wir das Qi selbst nicht spüren, merken wir, wie in seinem Gefolge das Blut vermehrt nach oben drängt, vielleicht bekommen wir vor lauter Ärger sogar ein rotes Gesicht. Dies ist übrigens keine gute Übung für Menschen mit Bluthochdruck oder Kopfschmerzen, bei denen das Qi auch ohne viel Ärger schon zu stark nach oben tendiert.
So, wie stellst du es nun an, dich zu beruhigen? Du hebst deine Hände vor das Gesicht, die Handflächen schauen nach unten, und nun drückst du beide Hände wie gegen einen leichten Widerstand nach unten, atmest dabei fest aus und denkst: „Mensch, beruhige dich!“ Mach die Bewegung mehrere Male hintereinander, lass dir Zeit und sei ernsthaft bei der Sache.
Diese Bewegung machen wir so oder so ähnlich völlig spontan, sooft wir uns beruhigen wollen, und sie folgt in allen Einzelheiten der inneren Logik des Qigong. Atmung, Bewegung und innere Sammlung bewirken, dass der Qi-Fluss sich wieder normalisiert und der Andrang von Qi und Blut im oberen Körperbereich langsam nachlässt. Dadurch beruhigt sich seltsamerweise auch der Ärger, denn der ist nicht nur Ursache des Aufsteigens, sondern zugleich auch dessen Folge. Um die Prinzipien des Qigong noch besser zu begreifen, versuche dich zur Abwechslung zu beruhigen, indem du mit den Händen nach oben drückst, als wolltest du ein Gewicht heben, während du einatmest oder während du denkst: „Ich reg‘ mich SO auf!“ Kein Wunder: es funktioniert nicht.
Wenn du dich durch diese Abwärtsbewegung tatsächlich beruhigen konntest, so ist der erste Schritt in Richtung Meisterschaft bereits getan: du hast tatsächlich Qigong geübt. Und du hast das Qi und seine Wirkung gespürt.
In den meisten Qigong-Kursen steht irgendwann einmal die Frage im Raum, wie sich denn nun dieses Qi anfühlt. Das Problem bei der Wahrnehmung des Qi ist meist, dass wir uns irgendwelche großartigen, umwerfenden und bahnbrechenden Empfindungen erwarten. In Wirklichkeit ist die Wahrnehmung des Qi gerade anfangs sehr subtil und für die meisten Menschen eigentlich nichts grundsätzlich Neues. Wenn wir mit etwas Fleiß die sehr einfache Qigong-Übung praktizieren, die ich gerade beschrieben habe, so wird es vielleicht schon dem Einen oder Anderen möglich sein, zu spüren, dass nicht nur die Hände sich senken, sondern dass sich im Körper etwas mitbewegt. Was sich hier bewegt, ist das Qi. Manche spüren diese Bewegung als eine Welle aus Licht und Dunkelheit, aus Dichte und Ausdehnung, aus Wärme, aus Intensität, aus Schwere oder Leichtigkeit; andere wieder beschreiben das Gefühl wie einen leichten Windstoß, wie ein Prickeln, ein Gefühl von konzentrierter Lebendigkeit…
Durch das fleißige Üben des Qigong wird es immer leichter, das Qi wahrzunehmen, zu stärken und gezielt zu lenken. Was uns daran interessiert, ist allerdings nicht so sehr die Welle des Qi, die wir während des Praktizierens wahrnehmen, denn für die Wirkung des Qigong ist es nicht ausschlaggebend, ob wir das Qi während der Übungen wahrnehmen können. Was uns interessiert ist die Wirkung dieser Arbeit mit dem Qi. Durch die Kräftigung des Qi werden wir stärker, ausdauernder, konzentrierter. Der verbesserte Fluss des Qi durch den Körper führt zu einem wunderbaren Körpergefühl und ganz nebenbei zu mehr Gesundheit: der Körper ist weich, warm, durchlässig und lebendig, er atmet mit jeder Zelle, ist klar und offen. Und die Zentrierung und Sammlung des Qi im unteren Dantian (im unteren Bauchraum) hilft uns dabei, emotional ausgeglichen und locker zu bleiben, geerdet, sicher und innerlich ruhig, in den Worten des Qigong: unten fest und oben weich. Alles das kann Qigong uns geben.
Qigong ist keine esoterische Technik. Ein Löwe auf der Lauer, ein verliebter Pfau, ein Seiltänzer, ein Stabhochspringer, ein Schauspieler, ein Herzchirurg und ein Straßenfeger, jeder lernt auf seine Weise mit dem Qi zu arbeiten, jeder koordiniert Atem, Körper und Geist um mehr Kraft, Geschick und Intensität zu haben. Qigong ist ein kleines, zartes Pflänzchen und es wächst mitten in unserem Alltag. Es kann mit der Zeit zu einem Mammutbaum heranwachsen, aber wir müssen etwas dazu beitragen, dass es wächst. Denn, wie Roger Jahnke richtig sagt: „Very little of what is promised by the Qi can be done for you by someone else.“ (Sehr wenig von dem, was das Qi dir verspricht, kann von jemand anderem für dich getan werden.)