Die Hiobstränensamen

In der chinesischen Tradition sind gerade jene Heilmittel besonders beliebt, deren Wirkung mild ist und die deshalb auch im Alltag ohne Angst vor Nebenwirkungen eingesetzt werden können. Um eines davon geht es heute: Hiobstränensamen, auf Chinesisch yiyiren (薏苡仁) und mit dem lateinischen Namen Coix lacryma-jobi. Das Getreide aus der Familie der Süßgräser besitzt unscheinbare und doch hübsche helle Samen, die der Gerste sehr ähnlich sind. Dieses Korn ist bescheiden genug, um als Grundnahrungsmittel und Viehfutter zu dienen, in der Wirkung mild genug, um praktisch keine unerwünschten Nebenwirkungen hervorzurufen und doch heilsam genug, um heute mehr denn je das Interesse der Forschung zu wecken.

Unter den enthaltenen Nährstoffen sind ein hoher Eiweißgehalt nennenswert und außerdem genügend Vitamin B1, um das Korn früher als Mittel gegen die Mangelerkrankung Beriberi einsetzen zu können. Aus der Sicht der Chinesischen Medizin ist Yiyiren trotz seiner Bescheidenheit in Küche und Apotheke unverzichtbar. Seine wohl wichtigste Aufgabe ist dabei die Stärkung des Funktionskreises Milz. Dies gelingt Yiyiren auf zweierlei Weise. Zunächst einmal ist es (wie viele andere Getreidesorten auch) ein gutes Qi-Tonikum. Die Qi-stärkende Wirkung erreicht vor allem die Milz, indirekt aber auch die Lunge. Dabei ist die Verträglichkeit dieses glutenfreien Getreides sehr gut, auch beim Verzehr von größeren Mengen. Außerdem gilt der Hiobstränensamen in der TCM als ein ausgesprochen mildes Qi-Tonikum, für das die Warnungen vor einer Überdosierung, wie sie zum Beispiel für Ginseng gelten, nicht nötig sind. Yiyiren ist in allen seinen Wirkungen der Inbegriff der Ausgeglichenheit: es tonisiert ohne Stagnation oder Hitze zu erzeugen, es leitet Feuchtigkeit aus ohne das Yin zu verletzen und es klärt Hitze ohne dem Yang zu schaden.

Die zweite Wirkung zur Unterstützung der Milz richtet sich gegen die Feuchtigkeit. Feuchtigkeit ist der klimatische Störfaktor, der dem Funktionskreis Milz am meisten zu schaffen macht. Dabei kann die Feuchtigkeit von außen in den Körper eindringen, sehr viel häufiger aber entsteht sie im Körper selbst als Folge von einseitiger Ernährung, Bewegungsmangel oder einer unvollständigen Umwandlung der Nahrung durch eine zu schwache Milz. Die Kombination von einer Milzschwäche und der sich ansammelnden Feuchtigkeit ist ein heutzutage sehr häufiges Störungsbild, und gerade dafür haben wir mit dem Hiobstränensamen ein gutes Mittel in der Hand. Dieser Samen kann sehr effektiv Feuchtigkeit ausleiten und zwar aus unterschiedlichen Bereichen. Sehen wir uns an, gegen welche Beschwerden er traditionell eingesetzt wird, so wird klar, wie vielseitig seine ausleitende Funktion ist. Yiyiren wird bei Ödemen eingesetzt, bei Durchfall, Blähungen und Dehnungsgefühl im Bauch, außerdem bei vaginalem Ausfluss, unreiner Haut oder Akne, alles Probleme, die in der TCM mit Feuchtigkeit zusammenhängen. Dank seiner harntreibenden Wirkung kann Yiyiren auch bei erschwertem oder schmerzhaftem Harnlassen helfen. Der einzige Haken an den Hiobstränensamen ist in diesem Zusammenhang wohl ihre kühlende thermische Wirkung: die zu unterstützende Milz sollte schwach, nicht aber „kalt“ sein (also soll ein Qi-Mangel, nicht aber ein Yang-Mangel vorliegen), die vorhandene Feuchtigkeit darf ruhig eine Tendenz zur Feuchte-Hitze haben, sollte aber nicht mit Kälte verbunden sein.

Um die tonisierende Wirkung zu unterstützen, wird Yiyiren in der chinesischen Tradition sehr gerne zusammen mit Reis gekocht, entweder im ganzen Korn oder pulverisiert. Im Prinzip kann in jedem gekochten Getreide, in jeder Suppe oder jedem Risotto eine Handvoll Hiobstränensamen mitgekocht werden. Die Kochzeit ist mit circa 20 Minuten relativ kurz und der Geschmack ist für uns zwar erst einmal fremd, aber im Prinzip nicht übel.  Als Pulver oder Mehl kann der Samen auch zum Backen verwendet werden. Da das Mehl selbst kein Gluten enthält, muss es für ein Brot mit den gängigen Brotgetreiden gemischt werden und zwar in einem Verhältnis von ca. 1:2 (1 Teil Mehl aus Hiobstränensamen, 2 Teile Mehl von Weizen, Dinkel, Roggen). Da Personen mit einer schwachen Milz und Feuchtigkeit sehr oft gut daran tun, Gluten so weit wie möglich zu vermeiden, scheint es mir allerdings sinnvoller, das Yiyiren mit anderen Mehlsorten zu kombinieren, zum Beispiel mit Hirse-, Reis- oder Kichererbsenmehl. Dann gibt es zwar kein richtiges Brot, dafür aber leckere Cracker. Für Puristen das folgende Rezept: 100 g Mehl aus Hiobstränensamen mit einem Esslöffel Olivenöl und genügend lauwarmem Wasser vermengen, um einen knetbaren, weichen Teig zu erhalten. Den Teig (er kann ruhig ein paar Stunden rasten) zwischen zwei Folien Backpapier mit einem Nudelholz sehr dünn (1-2 Millimeter) ausrollen, mit einem Messer in Rauten schneiden und auf dem unteren Backpapier bei 160 Grad in den Ofen schieben. Wenn die Cracker beginnen zu bräunen, sind sie fertig. In China wird Yiyiren sehr häufig auch als leicht gesüßte Abkochung zubereitet, vergleichbar mit einem Gestenwasser. Arbeitssparender ist es natürlich, den Getränken einfach das Granulat beizumischen, das es in Apotheken fertig zu kaufen gibt.

Ein wichtiger Aspekt der Feuchtigkeit ausleitenden Funktion von Yiyiren, den es noch zu besprechen gilt, betrifft das, was die TCM Wind-Feuchtigkeit nennt. Es handelt sich dabei um Feuchtigkeit, die von außen in Muskeln, Knochen und vor allem Gelenke eindringt, sich dort festsetzt und die Energiezufuhr blockiert. Die Folgen sind Schwellung, Spannungsgefühl, Steifheit und Schmerzen. Yiyiren kann der Tradition zufolge auch in diesen Fällen Erleichterung verschaffen, da es – so die Erklärung – die Feuchtigkeit sogar noch aus den Gelenken holen kann. Allerdings sollte wirklich Feuchtigkeit der auslösende Faktor für die Schwellung und die Schmerzen sein und nicht so sehr Kälte. Bei eindringender Kälte wäre Yiyiren mit seiner kühlenden thermischen Wirkung nicht ideal und müsste zumindest mit wärmenden Mitteln kombiniert werden. Ideal ist die kühlende Wirkung hingegen dann, wenn in den Beschwerden auch Hitze eine entscheidende Rolle spielt, aus westlicher Sicht also bei entzündlichen Prozessen.

Die Wissenschaft hat Yiyiren als wirksames Mittel zur Bekämpfung von Krebs entdeckt. Verschiedene Studien belegen diese Wirkung und in China und Japan wird das Mittel eingesetzt, um Krebspatienten über die gängige Therapie hinaus zu unterstützen. Selbstverständlich unterscheidet sich der therapeutische Einsatz von der Verwendung, die wir im Alltag machen. In der TCM wird Yiyiren mit anderen Heilkräutern kombiniert, die sich gegenseitig in ihrer Wirkung unterstützen und ergänzen und gleichzeitig die jeweiligen Nebenwirkungen abfangen können. Im biomedizinischen Ansatz werden vielfach einzelne Bestandteile des Samens isoliert und in höherer Dosierung verwendet.

Was den täglichen Konsum von Hiobstränensamen betrifft, gilt nach der chinesischen Tradition eine Menge von bis zu 30 g als sicher, allerdings können auch Mengen von 60 g täglich zum Einsatz kommen. Bei einem Granulat muss die Menge natürlich entsprechend angepasst werden: handelt es sich um ein 5:1 Granulat, dann entsprechen die 30 g zum Beispiel 6 g von dem Produkt. Wichtig ist dabei nur, am Ball zu bleiben. Yiyiren ist ein Mittel mit einer besonders sanften Wirkung, weshalb es relativ lange dauern kann, bis die Wirkung greift. Dann aber praktisch ohne Nebenwirkungen.

9 Kommentare zu „Die Hiobstränensamen“

  1. Du hast mich richtig aufgeklärt, wie bisher keine andre Webseite. Danke.
    (Ich habe mich selbst aus einer schweren – über 30J. anhaltende und am Schluss das Leben gefährdende – Atemwegerkrankung geheilt. Womit? Mit chin. Heilkräuter)

    1. KARIN WALLNOEFER

      Vielen Dank für das Feedback. Ich teile die Begeisterung für die Chinesischen Heilkräuter und die sehr positiven Erfahrungen damit!
      Liebe Grüße
      Karin

  2. Vor einem halben Jahr habe ich schon einmal Hiobssamen verwendet. Meine Rheumaschmerzen wurden weniger. Dann habe ich pausiert.
    Jetzt wurde ich durch eine Schmerzattacke daran erinnert und ich fange wieder damit an in der Hoffnung, dass si nachlassen. Ich werde Ihnen davon berichten.

  3. Gibt’s eine gute Bezugsquelle für Hiobssamen? Bzw. wo kaufen Sie diese? Ich hab sie letztens zwar in einer TCM Apotheke bekommen, allerdings waren sie da mit ca. 10€ für 100g relativ kostenintensiv (für das Frühstücksrezept in Ihrem Buch habe ich 60g davon benötigt)… besonders, da ich sie nun gerne regelmäßig verwenden würde 🙂
    Liebe Grüße aus Wien
    *Ulli

    1. Gerade habe ich festgestellt, dass ich LOTUSSAMEN (Nelumbinis Semen) gekauft (und verkocht) habe. Da sie uns sehr gut geschmeckt haben, habe ich den Irrtum nicht bemerkt (bis jetzt) 😀 Sind diese Samen denn ähnlich zu verwenden wie die Hiobstränensamen?

    2. In Taiwan kenne ich diese Samen gekocht und gesüßt als Frühstückszerealie. Man bekommt sie auch in pürierter Form als Smoothie in einer 300ml Flasche der Marke „Quaker“
      (diese Marke produziert ansonsten Haferflocken, Müsli usw.) Schmeckt alles sehr gut, dabei freue ich mich – nach der Information auf dieser Seite – über die heilende Wirkung dieser durchaus populären Samen.

  4. Vielen Dank für diesen Beitrag! Da Sie so gut im Thema sind und ich nirgends so viele Infos über die Wirkung der Hiobstränen gefunden habe, erlaube ich mir eine Frage:
    Neben einer Psoriasis-Arthritis lebe ich mit der Stoffwechselstörung Cystinurie. Ich finde leider keine Angaben darüber, ob in dem Gras viel der Aminosäure Cystin enthalten ist. Gerne würde ich damit meine Arthritis behandeln. Könnten Sie mir da bitte weiterhelfen?
    Viele Grüße, Barbara Kohl

    1. Tut mir Leid, ich kann da auch nicht wirklich weiterhelfen. Im Buch „Dietary Chinese Herbs“ ist angegeben, dass Yi yi ren 14% Proteine enthalten, aber keine Unterteilung in einzelne Aminosäuren.
      Liebe Grüße
      Karin

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